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Sonntag, 6. März 2011

Die Situation in Winnenden vor dem Jahrestag

Ein bisschen herrscht hier in Winnenden Angst vor dem Jahrestag. Am Freitag ist es zwei Jahre her, dass der sogenannte Amokläufer 15 Menschen erschoss. Dieses Jahr soll alles stiller zugehen als vor einem Jahr, als noch Bundespräsident und Minister kamen. Klar, Gedenkgottesdienste wird es auch in diesem Jahr geben. Und eine kleine Gedenkfeier, diesmal mitten in der Kleinstadt, am Marktplatz. Und die Glocken der Stadt werden läuten. Ab 9.33 Uhr, was hier sehr umstritten ist. Denn die Hulgigung an die exakte Tatzeit ist letztlich auch eine Heroisiering der Tat.

Gut, dass diese Woche Ferien sind. Entsprechend ist an den Schulen nichts geplant. Und die Albertville-Realschule hat es schon fast geschafft: Gleich einer Metapher ist der Rohbau vor der bekannten Fassade des Gebäudes fertig. Neues drängt sich vor die schrecklichen Erinnerungen. Das kann nur gut sein.

Dort, wo bis vor wenigen Wochen noch die Container der psychologischen Betreuung standen, an der Stadthalle, gegenüber der Albertville-Realschule, da hat sich in den letzten Tagen ein Zirkus einquartiert. Das mit Kindertränen gefüllte Grau entwich dem mit Kinderlachen gefüllten Bunt. Das Leben geht weiter. Geht es?

Mich sprach eine Mutter an, als ich mein Winnenden-Buch vor kleinem Publikum in Winnenden vorstellte. Ihr Sohn, sagte sie, sei damals in dem Klassenzimmer gewesen, wo es die vielen ermordeten Schüler gab. Jetzt, sagt sie, sei er so weit. Der Sohn gehe freiwillig zur psychiatrischen Behandlung. Es sei der größte Fortschritt seither. Das Seither ist nun zwei Jahre alt. Mit niemandem mehr könne die Familie sprechen, wenn es um das Winnenden gehe. Nicht einmal Verwandte könnten heute noch das Wort Amoklauf hören, beklagt die Mutter. Und Freunde schon gar nicht. Deshalb freue sich die Mutter so, dass es das Winnenden-Buch gebe, "weil ich mich nun nicht mehr so allein fühle". Weil sie nun wisse, dass der ganze Ort, alle Menschen so betroffen wären.

Gehen die Kinder morgens zur Schule - oder mittags zur Freundin - rufen sie lautstark: "Ich liebe dich" als Abschiedsgruß durchs Haus. "Warum macht ihr das denn immer?", fragen wir Eltern. "Weil man nie weiß, ob es die letzten Worte sind, die wir miteinander gesprochen haben", sagt meine Tochter. "Wir haben in der Schule darüber diskutiert. Man darf nie im Streit auseinandergehen..." Diese Sätze fielen heute. Nicht vor ein, zwei Jahren.

Ein Nachbarspaar sprach mich an. Ganz liebe, ältere Menschen. Weil ich ein Buch über Winnenden geschrieben habe, wollten sie mir ihre Geschichte erzählen. Wie sie damals im Schwimmbad waren, im Wunnebad. Und dann seien all die Kinder ins Bad geströmt. Manche seien blutig gewesen. Das ältere Paar hätte natürlich nicht gewusst, was denn passiert sei. Dann die Sirenen, die Polizei, die Krankenwagen, die Hubschrauber... Erst später wussten sie, dass alle unmittelbar betroffenen Schüler ins Schwimmbad geflüchtet waren.

Es war das erste Mal, dass mir die Nachbarn ihre Geschichte von damals erzählt hatten. Jeder hier hat seine Geschichte. Jeder weiß noch exakt, was er getan hat, damals. Und die Wunden der Erinnerung reißen immer wieder auf.

Ob die Presse jetzt wieder über den kleinen Ort einfallen wird, so wie damals? Diese Frage stellen sich viele Menschen hier. Einige Journalisten haben massiv Fehler gemacht, damals. "Rund um den Ort des Massakers sieht es aus wie auf einem Rummelplatz. Hunderte von völlig schockierten Kindern, Vätern und Müttern. Rummel rund um Blumen, Kerzen, Trauer. Eine von illustren Medien eingekreiste Leere. Die Fassungslosigkeit wird umzingelt, um sie aufzusaugen. Vampirartig werden Trauernde überfallen, angezapft, in ihrer Intimsphäre gestört", beschrieb ich es in meinem Buch, der "Tatort, Futterstelle für Journalisten."

Vielleicht haben Medien ja aus Winnenden gelernt. Täter müssen nicht auf Titelseiten erscheinen. Schüler, die unter Schock stehen, müssen nicht interviewt werden. Beerdigungen müssen ihre Privatsphäre haben dürfen. Da muss nicht heimlich über Friedhofsmauern fotografiert oder gefilmt werden. Natürlich, das muss man zugeben, haben die meisten Journalisten sauber, respektvoll gearbeitet. Einige standen selbst unter Schock, als sie hier in Winnenden angekommen waren. Ein Redakteur hat mir davon ausführlich berichtet. Denn auch Journalisten sind in der Regel auf so eine Ausnahmesituation nicht vorbereitet. Niemand ist es.

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